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Das Institut für Grundlagenforschung schließt in dieser hier präsentierten Form zum Jahresende 2005 seine Pforten.
Selbstverständlich lebt die Idee der performativen Wissenschaft weiter. Bitte verfolgen Sie unsere Arbeit unter Performative Wissenschaft.
The Institute for Basic Research will be shutted down in the form presented here by the
end of 2005. Of course, the idea of performative science continues. Please refer Performative Science to follow up our work.
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Molekular-Dynamik-Simulationen II
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Von Hans H. Diebner, 10-März-2000
Im Jahre 1967 publizierten J. Orban und A. Bellemans eine etwa 1-seitige Arbeit [1],
in der sie auf numerische Instabilitäten bei Molekular-Dynamik-Simulationen (MDS)
hinwiesen. Solche Instabilitäten stellen die Gültigkeit und Ausagekraft mancher
MDS in Frage, die für entropische Analysen durchgeführt werden. Hat man seine
eigene Forschung dem "Zeitreversibilitäts-Paradoxon" verschrieben, so muss
sorgfältig auf die Invarianz der Simulation unter Zeitumkehr geachtet werden.
Dieses Problem hat man prinzipiell heute im Griff, wenn der richtige Algorithmus
für die Simulationen verwendet wird.
Zum Verständnis der angesprochenen Problematik sei zunächst daran erinnert,
dass die Grundgleichungen konservativer dynamischer Systeme, also die Hamiltonschen
Gleichungen, invariant unter Zeitumkehr sind.
Das bedeutet für ein typisches N-Teilchen-Problem, dass keine Zeitrichtung ausgezeichnet
ist und daher bei einer Impulsumkehr aller beteiligter Teilchen zu einem bestimmten
Zeitpunkt die zurückliegende Trajektorie wieder genau rückwärts durchlaufen wird.
Eine beliebige Funktion der Mikrozustände sollte dann naturgemäß nach einer
Impulsumkehr ebenfalls rückwärts reproduziert werden können.
Orban und Bellemans haben in ihrer Simulationen eines Gases beispielsweise die
Boltzmannsche H-Funktion berechnet und erhielten die in der Abbildung gezeigten
Ergebnisse:
Abb. aus [1]
Die H-Funktion nimmt im Laufe der Zeit ab und strebt asymptotisch einem Minimum zu -
ihrem Geleichgewichtswert. Letzterer wird erreicht, wenn das Gas vollständig
relaxiert ist, was i.a. sehr schnell geht. Die Autoren kehrten nun nach 10 bzw. 20
Zeiteinheiten alle Impulse um, und berechneten weiterhin die H-Funktion, die
nun eigentlich zu einem symmetrischen Verlauf bezüglich t=10 bzw. t=20
führen müsste. Mit anderen Worten: das System müsste sich aus dem Gleichgewichtszustand
heraus in den initialen Nicht-Gleichgewichtszustand zurück bewegen.
Tatsächlich ist die Symmetrie bei einer Impulsumkehr bei t=10 in Teil (a) der Abbildung
nahezu erfüllt.
Bei einer Impulsumkehr zum Zeitpunkt t=20 jedoch, erkennt man eine deutliche Abweichung
von der theoretisch zu erwartenden Symmetrie.
In den Teilabbildungen (b) und (c) sind auch bei frühzeitiger Impulsumkehr die
H-Funktionen kaum zu repoduzieren. Der Unterschied in den Teilabbildungen liegt darin,
dass der berechneten Teilchentrajektorie zufällige Fehler überlagert wurden, und
zwar in der relativen Größe von (a)10-8, (b)10-5 und (c)10-2.
Die Tatsache, dass bei einer Überlagerung von Rauschen eine Entwicklung des Systems
zurück zum Nicht-Gleichgewichtszustand unterdrückt wird, selbst dann, wenn man es in entsprechenden
Anfangszuständen präpariert (wie im vorliegenden Falle), läßt sich im Lichte einer
Arbeit von James Hurley [2] gut verstehen. Wir wollen an dieser Stelle nicht näher darauf
eingehen. Das eigentlich erschreckende an Orban und
Bellemans Ergebnis ist, dass unter Verwendung eines Standardalgorithmus für
Differentialgleichungen, implementiert auf der Basis einer Floating-Point-Arithmetik
auf einem Digital-Computer, solches Zufallsrauschen gar nicht vermeidbar ist, da
Rundungen nichtlinearer Natur sind und sich als Rauschen bemerkbar machen.
Ein konservatives Hamiltonsches System wird durch eine gängige Implementierung auf
einem Computer zu einem offenen System, d.h., es wird eine numerische Dissipation
überlagert. Die Resultate beziehen sich auf das offene, nicht auf das zu untersuchende
konservative System.
Das vorliegende Problem ist ganz eng mit jenen verwandt, die im Zusammenhang
mit der Chaosforschung eine zeitlang für Unruhe sorgten.
Noch heute gibt es Kritiker an der Chaosforschung, die von computergenierten Artefakten
reden.
Tatsächlich hat sich auf analytischem und "real-"experimentellem Wege zeigen
lassen, dass chaotische Phänomene existieren.
Für die Rehabilitierung der "Computerexperimente" sorgten insbesondere die
Ergebnisse des Numerikexperten Peter Kloeden und seiner Kollegen [3]. Sie konnten
zeigen, dass es eine Klasse von Algorithmen gibt, die bestimmte invariante Strukturen im
Phasenraum - z.B. chaotische Attraktoren - bis auf eine beliebig kleine Umgebung
reproduzieren können.
Mit dem selben Rezept lassen sich analog so genannte symplektische Algorithmen
für die Integration Hamiltonscher Systeme ableiten [4].
Diese sind so konstruiert, dass sie gewisse Invarianten bis auf eine beliebig
kleine Abweichung erhalten. Die im MDS-Kontext entscheidenden Invarianten sind
Energie und Impuls. Ein bedeutsamer Beitrag zur algorithmischen Konsistenz
bei MDS stellt die Ableitung eines symplektischen Algorithmus aus dem Prinzip
der kleinsten Wirkung dar [5]. Die Anwendung des Extremalverfahrens auf die diskrete
Raum-Zeit (des Digital-Computers) liefert eine "diskrete Newtonsche Bewegungsgleichung".
Das Resultat ist ein Algorithmus, der den Impuls exakt erhält, keine säkulare
Energiedrift erzeugt und exakt-reversibel ist. Die zündende Idee geht auf Gillilan
und Wilson [6] zurück, die das Extremalverfahren allerdings nur auf die diskretisierte
Zeit anwandten. Dass zudem die Implementierung unter Verwendung der Integer-Arithmetik
stattfinden muss, erkannten unabhängig Levesque und Verlet [7] sowie Diebner [8].
Wir können also zusammenfassen, dass konsistenten numerischen Untersuchungen
von Hamiltonschen N-Teilchen-Systemen nichts mehr im Wege steht. Die Auflösung
des Orban und Bellemans'schen Problems, also die Reproduzierbarkeit
der H-Funktion nach Impulsumkehr, wurde in [7, 8] gezeigt. Die im ersten
der Beiträge dieser Web-Site beschriebene Entropieuntersuchung [9,10] fand unter Verwendung
des symplektischen, exakt-reversiblen Algorithmus statt und findet daher in seiner
Aussagekraft nachträglich zusätzliche Rechtfertigung. Eine umfangreiche Bearbeitung
dieses und verwandter Themen ist in [11] zu finden.
Literatur:
[1] J. Orban and A. Bellemans:
Velocity-Inversion and Irreversibility in a Dilute Gas of Hard Disks,
Phys. Lett. 24a, 620-621 (1967).
[2] James Hurley:
Resolution of the Time Asymmetry Paradox,
Phys. Rev. a22, 1205-1209 (1980).
[3] P. Diamond, P. Kloeden and A. Pokrovskii:
An Invariant Measure Arising in Computer Simulation of a Chaotic Dynamical System,
J. Nonlin. Sci. 4, 59-68 (1994).
[4] J.M. Sanz-Serna:
Symplectic Integrators for Hamiltonian Problems: An Overview,
Acta Numerica 1, 243-286 (1991).
[5] Walter Nadler, Hans H. Diebner and Otto E. Rössler:
Space-Discretized Verlet-Algorithm from a Variational Principle,
Z. Naturforsch. 52 a, 585-587 (1997).
[6] R.E. Gillilan and K.R. Wilson:
Shadowing, Rare Events, and Rubber Bands. A Variational Verlet-Algortihm for
Molecular Dynamics,
J. Chem. Phys. 97, 1757-1772 (1992).
[7] D. Levesque and L. Verlet:
Molecular Dynamics and Time Reversibility,
J. Stat. Phys. 72, 519-537 (1993).
[8] Hans H. Diebner:
Investigations of Exactly Reversible Algorithms for Dynamics Simulations,
(in German), Master's Thesis in physics, University of Tübingen 1993.
[9] Hans H. Diebner:
On the Entropy Flow Between Parts of
Multi-component Systems, Partial Entropies and the Implications for Observations,
Z. Naturforsch. 55a, 405-411 (2000).
[10] Molekular-Dynamik-Simulationen I
[11] Hans H. Diebner:
Time-dependent deterministic entropies and dissipative structures
in exactly reversible Newtonian molecular-dynamical universes.
Doctoral thesis, in German.
(Zeitabhängige deterministische Entropien und dissipative Strukturen
in exakt reversiblen Newtonschen molekulardynamischen Universen, Dissertation)
Verlag Ulrich Grauer, Stuttgart 1999.
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